Macht des Haares...

Haube und Schleier

In der patriarchalen Gesellschaft des Mittelalters, die die Eigenständigkeit von Frauen beschnitt, gab es für diese nur zwei Möglichkeiten, um zu einem gesicherten Leben zu gelangen — »unter die Haube kommen« oder »den Schleier nehmen«. Stand die eine Redewendung für die Vermählung mit einem realen Mann, so verwies die zweite auf die symbolische Vermählung mit Christus, das heisst den Eintritt in eine klösterliche Ordensgemeinschaft. Die Absicherung der wirtschaftlichen Existenz war aber nur eine Seite dieses Unterfangens: Die Kontrolle der weiblichen Sexualität gehörte zur Kehrseite der Medaille und zu den wesentlichen Absichten der patriarchalen Gesellschaft im mittelalterlichen Europa. Auf der praktischen Ebene verbarg sich hinter den Redewendungen allerdings tatsächlich der Vorgang der Bedeckung des weiblichen Haares. Nur sehr jungen Mädchen — Mädchen vor der Geschlechtsreife — war es gestattet, ihr Haar lang und offen zu tragen; danach wurde es geflochten, hochgesteckt oder unter Tüchern verborgen. Ähnliche Regeln gelten heute noch in den reformatorischen Freikirchen wie beispielsweise bei den Hutterern und den Amish, aber auch in den islamischen Ländern sind sie noch lebendige Tradition.

 

Das lange, offen getragene Haar stand und steht symbolisch für die ungebändigte Sexualität, die weder einer unverheirateten Frau noch einer Ehefrau zugestanden wurde und wird. Nur der Ehemann darf sich am Anblick des offenen Haares seiner Frau erfreuen - so fordert es die islamische Familienehre seit Jahrhunderten. Nicht zuletzt wegen dieses hohen symbolischen Charakters wurde das Tragen des Schleiers und des Kopftuches von Kemal Atatürk in seinem Bestreben, die Türkei zu einem modernen, zivilgesellschaftlich verfassten, republikanischen Staat zu machen, verboten. In der seit Jahren unter türkischen und anderen islamischen Migranten in Westeuropa verstärkt geführten Diskussion um die Befolgung des Gebotes, das Kopftuch zu tragen, wird von den Befürwortern sehr bewusst verschwiegen, dass Kemal Atatürk ebenso das Tragen des Fes verboten hatte, der traditionellen Kopfbedeckung der Männer, die deren Zugehörigkeit zum Islam anzeigte. Während von den Frauen eine Rückkehr zum Schleier erwartet und gefordert wird, ist von der Wiederaufnahme der Tradition des Fes unter den islamischen Männern keine Rede. Das Beharren auf das Tragen des Kopftuches scheint sich offenbar weniger im Bereich des Religiösen zu begründen als in den geschlechtsspezifischen Machtverhältnissen.

 

Doch nicht nur im fundamentalistischen Islam lassen sich derartige Riten des Verschleierns von weiblicher Schönheit finden. Orthodox-konservative Gruppen innerhalb des Judentums gebieten verheirateten Frauen, sich den Kopf kahlzuscheren, um dadurch das Begehren des Mannes zu mindern. Den Hintergrund für diesen Brauch, der bis in biblische Zeit zurückreicht (Numeri 5,18), liefert die Überzeugung, dass das Verhältnis zwischen Mann und Frau nicht von Äusserlichkeiten abhängig sein soll; der Zweck der Ehe, ausserhalb derer keine Sexualität stattfinden darf, ist die Zeugung von Nachkommenschaft. Die Ehe basiert auf dem Respekt und dem göttlichen Gesetz, Momente der Liebe gehören hingegen einzig Gott.

 

Damit sie nicht gedemütigt werden, dürfen diese Frauen in der Öffentlichkeit entweder ständig einen »Scheid« (eine kurzhaarige Perücke) und/oder ein »Tichl« (Kopftuch) tragen. Gleichwohl entwickelten sich die künstlichen Haare in der religiösen Subkultur zu einer Art Fetisch. In der von Ultraorthodoxen dominierten israelischen Stadt B'nai-Brah beispielsweise versuchten vor wenigen Jahren eifernde Tugendwächter, durch öffentliche Proteste die Ausstellung von Perücken in Schaufenstern verbieten zu lassen, gingen sie doch vom erotisierenden Charakter dieser Ware für Männer ihrer Glaubensgemeinschaft aus. Erst nach heftigen Diskussionen wurde zwischen den Moralhütern und den Händlern ein Kompromiss er-stritten: Die Ware durfte zwar fortan weiter öffentlich ausgestellt werden; die Schaufensterpuppen beziehungsweise deren Köpfe, denen die Perücken aufgesetzt wurden, mussten jedoch Sonnenbrillen tragen. Man glaubte, die sinnliche und erotisierende Gefahr, die von den künstlichen Augen dieser Plastikwesen für die Männer ausging, dadurch gleichsam gebannt zu haben.

 

Die Auffassung, die Kahlköpfigkeit von Frauen als Präventivmassnahme gegen das männliche Begehren durchzusetzen, findet ihre Entsprechung auch in den lamaistisch-buddhistischen Frauenklöstern: Die buddhistischen Nonnen unterwerfen sich mit der vollkommenen Rasur des Kopfes genau wie die Mönche dem Gebot der Keuschheit, vor allem aber dem der Geschlechtslosigkeit – Männer und Frauen werden durch die Rasur äusserlich zu gleichen Wesen, jenseits der sie umgebenden Gemeinschaften.

 

Der österreichisch-amerikanische Modeschöpfer Rudolf Gernreich konzipierte mit seinen kahlköpfigen Unisex-Modellen zu Anfang der siebziger Jahre eine ähnliche Welt der äusserlichen Gleichheit. Im Unterschied zum asiatischen Vorbild verband er seine Mode jedoch nicht mit dem Anspruch der Geschlechtslosigkeit – vielmehr propagierte er durch die modische Geschlechtsannäherung die Befreiung der Frauen und Männer von den tradierten Rollenzwängen. Er kreierte bewusst eine Mode der Bipolarität. Zu den grellbunten, togaartigen Gewändern, die Weiblichkeit symbolisieren, gesellte er konterkarierend die harte Männlichkeit symbolisierende Kahlköpfigkeit. Die umgekehrte Inszenierung – lange Haare und männliche Bekleidung – hätte seinem Empfinden nach nicht das Grundmuster der Vorherrschaft des Mannes gebrochen und wäre auch keine Provokation gewesen, da die Frauen der Industriestaaten schon länger Hosen und maskuline Mode trugen. Erst durch die Feminisierung der »zweiten Haut« des Mannes sah er die Möglichkeit, die Dominanz des männlichen Modells zu brechen. Durch die Kahlheit des Kopfes wollte er die Frauen von der aufwendigen Frisurenkosmetik befreien. Gernreichs Menschenbild, das schon in den siebziger Jahren mit Formen der Androgynität spielte, sollte erst mehr als zwei Jahrzehnte später dem Zeitgeist entsprechen.

 

In der katholischen Tradition wurde der radikale Weg der buddhistischen Klostergemeinschaften nie beschritten. Frauen, die das Gelübde ablegten, mussten zwar als Zeichen der Unterwerfung auf Attribute weiblicher Schönheit verzichten, ihr Haar kürzer schneiden und es vollkommen mit einem Schleier bedecken. Sie sollten sich die Haare aber nie bis zur Kahlköpfigkeit kürzen, da dieses Sinnbild der Demut den Priestern und Mönchen vorbehalten war. Die Nonnen als Bräute Christi mussten ein wesentliches Zeichen ihrer Weiblichkeit behalten und durften nicht zu geschlechtslosen Wesen werden. Selbst als Nonnen mussten sie Frauen, nur eben Jungfrauen bleiben.

 

Während die Mehrheit der nichtkontemplativen katholischen Frauenorden heute auf das Tragen eines die Haare verbergenden Schleiers verzichtet und nur noch einen Kurzhaarschnitt vorschreibt, besteht in den orthodoxen Klöstern ungebrochen die Tradition der Verschleierung des Hauptes als sichtbarem Zeichen der Keuschheit. Doch nicht nur die Nonnen werden dort diesem Ritual unterworfen. Alle Frauen müssen beim Betreten der orthodoxen oder unierten Kirchen ihr Haupt bedecken, während Männer das ihre zu entblössen haben.

 

In den westeuropäischen Staaten kam die katholische Kirche von diesem Ritual seit dem Zweiten Vatikanum (1962—1965) ab. Lediglich für die Begegnung mit dem Papst schreibt das Protokoll Frauen die Verschleierung vor. Tatsächlich leisten diese Ehrerbietung heute nur mehr Traditionalistinnen, Angehörige des Diplomatischen Korps oder Staatsoberhäupter wie die englische oder die schwedische Königin. Hillary Clinton hingegen begegnete dem Papst als praktizierende Methodistin in ziviler Form und löste damit im Vatikan Verstimmung aus. Sie missachtete dabei zwar das römische Protokoll, folgte jedoch umgekehrt nur der Tradition ihrer eigenen Glaubensrichtung. Anders als die ihnen verwandten Quäkerinnen hatten Methodistinnen immer das Tragen der viktorianischen Hauben im 19. Jahrhundert verweigert und damit ihre Gleichheit mit den Männern zum Ausdruck gebracht. Für sie ist die Haube kein Zeichen der Keuschheit, sondern des eitlen Putzes. Nur Witwen tragen diese Kopfbedeckung.

 

Das kurze Haar und das es bedeckende Kopftuch oder der Witwenschleier galten seit dem Mittelalter in allen europäischen Kulturen als ein Zeichen der Trauer um den verlorenen Mann. Am längsten blieb diese Sitte in den mediterranen Kulturen lebendig, und sie wird in manchen Regionen des Balkans bis heute gepflegt. Die »fröhliche« Witwe hingegen trug langes offenes Haar und signalisierte damit ihre Bereitschaft zur Wiederverheiratung, was nicht in allen Gesellschaften wohlwollend aufgenommen wurde — und wird.

 

In den mediterranen Kulturen, in denen Frauen in die Familie des Mannes einheirateten und dort gleichsam ihre Rechte aufgaben, bedeutete die Wiederverheiratung bis in die jüngere und jüngste Vergangenheit hinein eine Art Tabubruch. Frauen, die sich dieser patriarchalischen Norm nicht unterwerfen wollten, waren in den Phantasien der Männer seit jeher dafür gut, Auslöser von unheilbringenden, wollüstigen Gedanken zu sein. Die Sirenen, mythologische Figuren des östlichen Mittelmeerraums und bekannt für ihre unwiderstehlichen verführerischen Stimmen, werden in bildlichen Darstellungen stets mit offenem, wallenden, oft gar roten Haar gezeigt. Auf den antiken Mythos gründen sich die zahlreichen Geschichten über Meerjungfrauen; selbst die Gestalt der Lorelei, wie wir sie aus der Beschreibung Heinrich Heines kennen, steht in seiner Tradition: Hoch auf einem Hügel über dem Rhein sitzt, so die Sage, die Lorelei und kämmt ihr langes Haar. Und stürzt auf diese Weise einen Schiffer nach dem anderen in sein Unglück.

In der Reihenfolge: Hera, Aphrodite, Hestia, Pallas
In der Reihenfolge: Hera, Aphrodite, Hestia, Pallas

Die Verführungskraft des Haares

Auf die verführerischen Qualitäten des weiblichen Haares weisen fast alle Dichter seit der europäischen Antike hin. Das Haupt der Aphrodite, der Göttin der Liebe, zierte nie ein Schleier, im Gegensatz zur keuscheren Hera oder deren Schwester Hestia, der Göttin des Herdes und des Feuers. Besonders deutlich kommt der Zusammenhang zwischen locker getragenem Haar und erotischer Anziehungskraft in Ovids dichterischer Darstellung der unerfüllten Liebe zwischen Apoll und der Bergnymphe Daphne zum Ausdruck: Apoll, der ewig junge und Lockenköpfige Gott, der sein Haar nie schneiden muß, verfolgt Daphne mit seinen Nachstellungen. Daphnes besondere Attraktivität bestand in ihrem wilden und wallenden Haar — im Originaltext heisst es »positos sine lege capillos« (die regellos liegenden Haare). Daphne jedoch ist nicht bereit, ihre Jungfräulichkeit preiszugeben und wehrt das Liebeswerben des Gottes ab. Als er sie schließlich stellt, verwandelt ihre Mutter, die Erde (einer anderen Version zufolge auch ihr Vater, der Flußgott Peneus), sie in einen Lorbeerbaum. Ihre Haare werden zu dessen immergrünen Blättern. Apoll, der ihr echtes Haar nicht berühren konnte, als sie noch menschliche Gestalt hatte, pflückt die Blätter und schmückt von nun an mit ihnen sein Haupt, seine Leier und seinen Köcher. Mit diesem Akt vollzieht er die Vereinigung, die er in der mythischen Realität nicht hatte erreichen können.

 

Zwischen der sexuellen Verführung durch die Frau und dem anschließenden Unglück besteht der antiken Auffassung zufolge ein enger Zusammenhang. Offene Haare symbolisieren daher in den überlieferten Erzählungen und Berichten antiker Autoren eine lebensbedrohende Gefahr. Am deutlichsten illustriert dies wohl der bekannte Mythos der Gorgonen und insbesondere der Gorgo Medusa, auf deren Haupt sich todbringende Schlangen räkeln. Als Archetypus im Jungschen Sinn symbolisiert die Gorgo damit nicht nur das Böse in einem selbst, sondern auch die ungezügelte weibliche Sexualität. Schon ihr Anblick, aber auch das Berühren ihres Haares, versteinert den Menschen.

 

Gingen vom Haar der Frau verführerische Reize aus, so sah man im Haar des Mannes in vielen antiken Kulturen ein Zeichen seiner Führungsqualität, seiner Macht und persönlichen Stärke. Der Topos von der im Haar ruhenden Macht verbreitete sich ausgehend vom Zweistromland in den angrenzenden Zivilisationen. Das Gilgamesch-Epos mit seiner Darstellung des Enkidu bildete dabei gleichsam den Urtext dieser Vorstellung, die mit der Geschichte der Bezwingung des scheinbar Unbezwingbaren einhergeht. Das Gilgamesch-Epos ist freilich weit weniger blutig als jene Version, die das Judentum in seine Mythologie inkorporierte. Im alttestamentarischen Buch der Richter triumphiert Delila über den löwenstarken Simson, indem sie mit ihm schläft und sein Lockenhaar abschneidet. Stoffgeschichtlich belegt ist zudem die Parallele zwischen der Simson-Delila-Erzählung und der biblischen Geschichte von der Vertreibung aus dem Paradies. In allen drei Fällen geht es um den Verrat der Frau am Mann — sie verführt ihn und verursacht damit seine folgenschwere Schwächung. Dass bei dieser Schwächung das männliche Haar eine wesentliche Rolle spielt, ist freilich in der Genesis-Version der Erzählung getilgt. Im Gilgamesch-Epos besteht der Zusammenhang über die Schilderung der starken Körperbehaarung Enkidus, am deutlichsten kommt der Konnex Haar = Stärke / Haarverlust = Schwächung aber in der Version des Buchs der Richter zum Tragen.

 

Die Fortführung des babylonischen Urtextes in der jüdischen Kultur lässt sich auch anhand eines anderen kleinen Details nachvollziehen, das zugleich die Rivalität der beiden Kulturen bezeugt. Real hatten die Babylonier die jüdischen Stämme unterworfen; in der Literatur entwarfen sie jedoch ein Gegenbild der Stärke. Simson hatte demnach siebenfach gelocktes Haar und übertraf so seinen babylonischen Vorläufer Enkidu um eine Lockung. Im Neuen Testament selbst lassen sich keine vergleichbaren Stellen mehr finden, an denen dem Haar beziehungsweise den Locken wie im Alten Testament mythische Qualitäten wie Macht und Stärke zugesprochen werden. Dort ist es nur mehr die verführerische Qualität des Haares, die betont wird, wie etwa in der Geschichte der Maria Magdalena deutlich wird. Gleichwohl ist dem Wort »Locken« bis heute eine doppelte Bedeutung inhärent: Es bezieht sich nicht nur auf das Formen der Haare, sondern bedeutet vor allem auch »verführen« (im Sinne von »anlocken«).

 

Die Bedeutung des Haars als Symbol der Macht und Stärke gehörte ebenso zur Vorstellungswelt des antiken Griechenland: Siegreiche Krieger schnitten den ihnen unterlegenen Kämpfern stets die Haare ab; die heimtragenden Soldaten bemalten ihre Kopfbedeckungen mit symbolischen Darstellungen ihres Haares, um ihre Stärke zu unterstreichen. (Die Rasur des Gegners als Zeichen seiner Demütigung lässt sich in vielen Kulturen nachweisen. Man denke nur an das grausige Ritual des Skalpierens bei einigen nordamerikanischen Indianervölkern).

 

Von den Kriegern Spartas heisst es, dass sie ihr Haar vor jedem wichtigen Kampf besonders sorgfältig kämmten. Zum Sterben bereit, wollten sie Thanatos, dem Gott des Todes, würdig entgegentreten. Bei den kurzhaarigen Persern trug ihnen dieses Ritual den Vorwurf der Eitelkeit, besonders aber der Verweiblichung ein. Diese masslose Fehleinschätzung veranlasste Xerxes bei seinem Zug gegen Griechenland in der Schlacht von Plataeae (479 v. Chr.), nur eine geringe Truppenanzahl gegen das Aufgebot Spartas zu schicken, wo-durch es zu einer Niederlage der Perser kam. Er hatte das Ritual der Spartaner seinem Alltagsverständnis entsprechend gedeutet und nicht in Zusammenhang mit den spezifischen Glaubensvorstellungen des Pelopennes gesehen.

 

In der Vorstellungswelt der Griechen trat der Tod eines Menschen dann ein, wenn Thanatos dem Sterbenden das Haar geschoren oder aber es auch nur berührt hatte. Da Thanatos menschliche Gestalt annehmen konnte, war es strikt untersagt, Kindern bis zum dritten Lebensjahr die Haare zu schneiden; auch schwangere Frauen hatten sich einer Verkürzung der Haare zu enthalten. Im Judentum wurde diese Vorschrift übernommen und gilt auch heute noch.

 

Die Bedeutung des Haares bei den Griechen kommt zudem in kultischen Handlungen zum Ausdruck. In der Epoche der Ablösung des Menschenopfers ersetzte das Haar den Körper des Opfermenschen am Altar der Götter und repräsentierte die Unterwerfung unter den Willen der Götter. Gleichwohl durfte dieses Opfer nur am Festland gebracht werden. Das Schneiden des Haares auf einem Schiff führte, so der Glaube der Griechen, zu dessen Untergang, da sich die Menschen Poseidon unterworfen hätten. Dem römischen Imperium waren derartige Glaubensvorstellungen ebenfalls nicht fremd. Die geschilderte Substitutionsfunktion des Haares für den Kopf, gleichsam als ein pars pro toto, findet auch im lateinischen Begriff für die Haare ihren Niederschlag — »capillus«, also: kleiner Kopf.

Das Haupt der Medusa.
Das Haupt der Medusa.

Von langhaarigen Königen

Die germanischen Stämme huldigten einem der griechischen und römischen Antike vergleichbaren Haarkult. In den Gesetzen der Alemannen, Franken, Langobarden und Angeln zog das erzwungene Scheren des Hauptes eines Mannes schwere Strafen nach sich; vergleichbare Delikte an Frauen wurden hingegen nicht geahndet. Der angelsächsische König Alfred der Grosse (um 848–899) setzte für diese Tat eine Strafe in der Höhe des Kaufpreises einer Kuh fest, und selbst Friedrich Barbarossa sah sich noch veranlasst, dafür in seiner Rechtsprechung hohe Strafen festzulegen — zu einem Zeitpunkt, da das Haar seine sakrale Bedeutung längst verloren hatte. Was geblieben war, war jedoch seine Funktion als Symbol für Unabhängigkeit und Zeichen der ständischen Position.

 

In den von den Germanen beherrschten frühmittelalterlichen Gesellschaften und Königreichen repräsentierte langes Haar Souveränität und damit verbunden persönliche Freiheit; kurzes Haar stand im Gegenzug für Unfreiheit und Unterwerfung. Beispielhaft für diese Einstellung sind die Begebenheiten im merowingischen Königshaus. Chrodechild (gestorben 554), die nachmalige heilige Chlotilde und Gemahlin des Reichsgründers Chlodwig I. (482—511), hatte 524 die Vormundschaft für ihre drei Enkel, die Söhne des gefallenen Chlodomer von Orleans, übernommen. Mit Eifersucht und Misstrauen beäugten Chlotildes Söhne Chothar I. und Childebert I. das Heranwachsen ihrer Neffen Theudobald, Gunthar und Chlodovald, die ebenfalls Anrecht auf das merowingische Erbe hatten. Um sich der potentiellen Rivalen zu entledigen, lockte Childebert die Knaben mit dem Versprechen aus der Obhut ihrer Grossmutter, sie krönen zu wollen. Nachdem sie die Jungen in ihre Gewalt gebracht hatten, schickten Chlothar und Childebert einen Boten zur Königswitwe, der ihr zwei Symbole überbrachte — nämlich ein Schwert und eine Schere. Der Bote stellte Chlotilde vor die Wahl, ihre Enkel entweder durch das Scheren der Haare zu Mönchen zu machen und sie so aller politischen Macht zu entkleiden oder ihre Ermordung zuzulassen. Angesichts dieser Alternative soll die Königswitwe aufgeschrien haben: »Wenn sie nicht Könige werden sollen, dann lieber tot « Chlotilde wählte für die Knaben den Tod, den sie für ehrwürdiger ansah als den Verzicht auf die Herrschaftsrechte, der durch das Scheren einen symbolischen Ausdruck gefunden hätte. Daraufhin erschlug Chlothar die beiden älteren Neffen mit eigener Hand. Chlodovald, der jüngste, hingegen soll sich einem Bericht Gregors von Tours zufolge selbst sein Haar gekürzt haben, um dem grausamen Los seiner beiden Brüder zu entkommen. Dem Verlust des königlichen Erbes konnte er damit freilich nicht entgegenwirken. Er wurde Priester, was ihn zwar von der Erbfolge ausschloss, aber gleichzeitig nicht entehrte: Die freiwillige Tonsur zog nicht die unendliche Demütigung nach sich, die ein Geschorenwerden zur Folge gehabt hätte.

 

In diesem Kontext ist interessant zu wissen, dass bereits beim Gründungsmythos der Merowinger die Haartracht eine wesentliche Rolle spielte. Im Gefolge seiner Hochzeit mit Chlotilde nahm Chlodwig I. zwar nach einigem Zögern und vor allem wohl aus politischem Kalkül die Religion seiner Frau an und trat zum Christentum über. Aber er hielt an gewissen heidnischen Traditionen fest. So trug er sein Haupthaar stets lang, um die Stärke seiner Königsmacht zu demonstrieren. Dieser Brauch wurde auch von seinen Nachfolgern fortgeführt, die merowingischen Könige nannten sich bewusst und stolz »Reges criniti«: langhaarige Könige. Nicht nur im übertragenen, sondern im konkreten Sinne war mit der Haartracht der Merowinger ihre Regentschaft verknüpft. Die Geschichte des Geschlechts war beendet, als dem letzten Merowinger die Haare abgeschoren wurden. Damit hatten die Karolinger endgültig die Macht im Reich ergriffen. Sie brauchten den letzten in einer langen Reihe von sogenannten »Schattenkönigen« aus dem Geschlecht der Merowinger nicht zu töten, einmal mehr genügte die öffentliche Demütigung durch Erteilung der Tonsur. Childerich III., dem dieses Schicksal 751 durch die Hand des karolingischen Hausmeiers Pippin widerfuhr, darbte die letzten Lebensjahre als Mönch in einem Kloster.

 

Die Veränderungen, die sich im Laufe der Jahrhunderte hinsichtlich der symbolischen Bedeutung der Haare ergaben, sind an einem scheinbar unbedeutenden Detail erkennbar. Einer der grossen Karolinger trug in Anspielung auf seine Glatze den Beinamen »der Kahle«, was seiner Macht jedoch keinerlei Abbruch tat. Zu Zeiten der Merowinger hätte die Kahlheit des Königs die Legitimität seiner Herrschaft in Frage gestellt, da sie als Verlust des Königsheils gewertet worden wäre.

 

Geschickt hatten es die Karolinger verstanden, ihre Macht und ihren Herrschaftsanspruch anders als die Merowinger zu legitimieren. Sie setzten nicht mehr auf die Sakralität des Haars, sondern liessen sich vom Papst, dem Stellvertreter Christi, mit heiligem Öl salben. Mit der Salbung Pippins durch Papst Stephan II. (752) warder Untergang der Merowinger und der Aufstieg der Karolinger besiegelt.

 

In bewusster, gleichsam antithetischer Umdeutung des merowingischen Gründungsmythos verstanden es die Karolinger zu-dem, die Legitimität des eigenen Hauses weiter zu untermauern. Sie wiesen öffentlich darauf hin, Abkömmlinge einer Heiligen zu sein, die sich nicht – wie Childerich – unter Zwang, sondern freiwillig der Tonsur hingegeben hatte: Gertrude (626–659), die Tochter des ersten fränkischen Hausmeiers Pippin des Älteren (um 580–640) und seiner Gemahlin Itta (592–652), wurde zur Familienheiligen der Karolinger auserkoren. Sie, die bereits im Kindesalter Keuschheit gelobt hatte, sollte auf Betreiben König Dagoberts 1. (um 608–638) mit einem wohlhabenden Edelmann verheiratet werden, lehnte dies aber ab und trat in das 640 von ihrer Mutter gegründete Kloster Nivelles (im heutigen Belgien), die spätere »Wiege der Karolinger«, ein. Beim Eintritt schnitt Gertrudes Mutter Itta ihrer Tochter die Haare in Form eines Kranzes (Tonsur). Die beiden Frauen weihten ihr Kloster dem Ziel, für alle Frauen und Töchter offen zu sein, die der Gefahr einer (Wieder-)Verheiratung ausgesetzt waren. Nach Ittas Tod wurde Gertrude Äbtissin des Klosters.

 

Der Glaube an die im Haar sitzende Macht verlor mit der Verfestigung christlicher Glaubensvorstellungen zwar an Bedeutung; das Haar selbst blieb aber ein Mittel, besondere Beziehungen oder Macht zu bezeugen. So sandte Karl Martell (um 689–741), der »erste Karolinger«, seinen Sohn Pippin 735 zum Langobardenkönig Liutprand (690—744), damit dieser ihm in einem rituellen Akt zur Besiegelung des Übertritts vom Knaben- zum Jünglingsstatus die Haare schneiden solle. Liutprand wurde so zum spirituellen Vater des Knaben, und der Junge hatte sich seinerseits dem langobardischen König unterworfen. Das damit hergestellte gute Verhältnis zwischen Franken und Langobarden trug neben Karl Martells Sieg über die vordrängenden Araber in der Schlacht von Poitiers (732) mit dazu bei, den Grundstein für das nachmalige Riesenreich der Karolinger unter Pippins Sohn Karl dem Grossen zu legen. Einen späteren Reflex dieses Zusammenhangs von Haartracht und Status kann man in der Literatur des 13. Jahrhunderts finden: Der Protagonist der von Wernher dem Gartenaere verfassten Verserzählung Meier Helmbrecht (um 1280) will sich mit seinem Stand und seiner Herkunft als Bauerssohn (beziehungsweise Meier) nicht abfinden. Er beschliesst, Raubritter zu werden, und lässt sich als äusseres Zeichen des Abschieds vom bisherigen Stand sein Haar lang wachsen — zu dieser Zeit ein Vorrecht der Aristokratie. Sein »Aus-scheren« aus der Norm der mittelalterlichen Ständegesellschaft bekommt ihm jedoch nicht gut. Er verbringt gemeinsam mit einer Gruppe von Raubrittern seine Zeit mit grausamen Verbrechen. Schliesslich wird er gefangen, vor Gericht gestellt, geschoren und geblendet. Von ehemaligen Opfern wiedererkannt, wird der grausame Emporkömmling aufgehängt.